Impuls- und Beratungsstelle für Religionsunterricht und Gemeindekatechese

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Interreligiöser Dialog
- Begegnungen ermöglichen

 

Ann-Katrin Gässlein

Lernprojekt Religionen der Welt

 

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Islam und Christentum - Theologische Gemeinsamkeiten und Differenzen

Christlich-islamischer Dialog ist in das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in einer fast 1400 Jahre langen Zeitspanne eingebettet. Christen und Muslime trafen und treffen sich auf vielerlei Ebenen: auf einer theologischen - dann setzt man sich mit Glaubenssätzen und den Heiligen Schriften auseinander - oder auf einer gesellschaftlichen - dann steht der gegenseitige Umgang, das Miteinanderleben oder das Gegeneinanderkämpfen im Vordergrund.

Als der Islam im Jahr 610 unserer Zeitrechnung die Weltbühne betritt, hat das Christentum bereits eine Geschichte hinter sich. Die Evangelien sind geschrieben, Synoden und Konzile haben stattgefunden, die ersten Abspaltungen sind geschehen, Häretiker waren aufgetaucht, und über die «wahre Lehre Jesu Christi» wurde eifrig gestritten. Christen lebten auch auf der arabischen Halbinsel und spielten eine nicht unerhebliche Rolle mit ihren religiösen Vorstellungen und Überzeugungen. Der Islam entstand nicht im luftleeren Raum: Er hatte sich mit dem Christentum als bereits präsenter Religion auseinanderzusetzen. Das ist auch dem Koran, der Heiligen Schrift der Muslime, anzumerken. Nicht nur nimmt dieses Buch direkt Bezug auf Christen, fällt Urteile und macht konkrete Aussagen, sondern auch auch islamische Glaubenssätze und religiöse Aussagen wurden in vieler Hinsicht von christlichen Schriften beeinflusst.

Die folgenden Jahrhunderte christlich-muslimischer Auseinandersetzungen sind von weltpolitischen Geschehnissen dominiert. Die christliche Staatsreligion des Byzantinischen Reiches ging unter, das islamische Reich der Ummayaden und später der Osmanen trat an seine Stelle. Orientalische Christen besitzen ihre ganz eigene Geschichte, die durch eine kontinuierliche Präsenz der islamischen Theologie und durch den eigenen Minderheitenstatus geprägt ist. Christliche Stimmen, die sich zum Islam äussern, sind immer auch aus ihrer historischen und politischen Situation heraus zu verstehen.

 

Das religiöse Umfeld des Islams

Die arabische Halbinsel, von welcher der Islam durch seine Gründungsfigur, den Propheten Muhammad, ausging, lag im Jahr 622 abseits der weltpolitischen Auseinandersetzungen. Das Zusammenleben der Araber war durch Stammesverbände bestimmt; eine staatliche Organisation gab es nicht. Die Religion der meisten Araber setzte sich aus einem Glauben an Götter, Geister und Heilige Gegenstände zusammen. Ein Gott namens Allah war bereits bekannt. Zum Teil wurde er auch für den höchsten und wichtigsten Gott gehalten - doch die Existenz anderer göttlicher Wesen wurde keineswegs geleugnet.

Der Sinai in der Morgendämmerung

Auch jüdische, christliche und juden-christliche Strömungen prägten das religiöse Leben. Diese Gruppen werden im Koran, der Heiligen Schrift der Muslime, als «Schriftbesitzer» bezeichnet. In Äthopien, im Perserreich und in Mesopotamien lebten im 7. Jahrhundert bereits zahlreiche Christen. Heute ist bekannt, dass vor allem Nestorianer und Monophysiten dort siedelten - das sind zwei orientalische Sonderkirchen, die sich in einigen theologischen Fragen von der Lehre der damals massgeblichen byzantinischen Kirche unterschieden.

Eine christliche Literatur in arabischer Sprache existierte nicht. Nur das ungefähre christliche Gedankengut fand in der arabischen Welt Verbreitung. Vorstellungen von Gott als dem Schöpfer, von Paradies und Hölle, von heiligen Gestalten wie Moses, Jesus und Maria waren bekannt. Christliche Mönche und Einsiedler erregten Bewunderung und Aufsehen. Auch im unmittelbaren Umfeld Muhammads haben vermutlich Christen gelebt. Zum einen war Mekka das bedeutendste Handelszentrum der arabischen Halbinsel und wickelte einen grossen Teil des Güterverkehrs zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer ab. Zum anderen überliefert ein islamischer Schriftsteller aus dem 7. Jahrhundert, Waraqa ibn Naufal, dass ein Vetter von Muhammads erster Frau Chadidscha, Christ gewesen sei.

Christen leben seit vielen Jahrhunderten auch im heute muslimisch geprägten Ägypten

Eine weitere Religion, die im Koran erwähnt wird, stellen die „Hanifen", übersetzt: die «Gottsucher» dar. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die jüdisches und christliches Gedankengut übernommen hatte, ohne sich einer der beiden Richtungen anzuschliessen. Der Koran definiert als Hanifen jemanden, der sich - statt der ihn umgebenden falschen Religion - der wahren Religion, nämlich dem ursprünglichen Monotheismus, dem Ein-Gott-Glauben, zuwendet.

Durch ihre Annäherung an die Vorstellungen und Frömmigkeitsformen der jüdischen und christlichen Religionen - ohne Christ oder Jude zu werden - wurden die Hanifen zu den wichtigsten Wegbereitern des Islams.

 

Muhammad und sein Erweckungserlebnis

Im Jahr 609, im Alter von 40 Jahren, hatte sich Muhammad mit seiner Frau Chadidscha in Mekka ein florierendes Handelsunternehmen aufgebaut. Sein Offenbarungserlebnis wird in der Begleitliteratur zum Koran, der Sunna, geschildert. Immer häufiger soll er sich zum Fasten ins Gebirge zurückgezogen haben. Auf dem Berg Hira nahe Mekka erlebte er Visionen und Erscheinungen des Engels Gabriels:

Wüstengebirge sind seit ehedem ein Anziehungspunkt für Mystiker

«Er kam zu mir, während ich schlief, mit einer Decke von Seidenbrokat, auf der sich eine Aufschrift befand, und sagte: Trag vor! Ich sagte: Ich trage nicht vor? Da presste er mich mit der Decke, dass ich glaubte, ich müsste sterben. Dann liess er mich los und sagte: Trag vor! (...) Ich sagte: Was soll ich denn vortragen? Ich sagte dies nur, um mich von ihm zu befreien, damit er mir nicht abermals so etwas antäte. Da sagte er: Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat! Trag vor! Dein Herr ist edelmütig wie niemand auf der Welt, er, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er zuvor nicht wusste. Dann liess er von mir ab. Er wandte sich von mir, und ich erwachte aus meinem Schlaf. Mir war, als ob in meinem Herz eine Schrift geschrieben wäre. (...) Da ging ich hinaus, bis ich auf der Mitte des Berges war. Ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sagte: O Muhammad! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel?»

Bibelforscher des 20. Jahrhunderts haben darauf verwiesen, dass die alttestamentliche Tradition eine ähnliche Wechselrede kennt: Am Anfang der Schriften des biblischen Propheten Deuterojesaja steht:

«Es spricht eine Stimme: Predige! Und der Prophet sprach: Was soll ich predigen?»

Sowohl die hebräische als auch die arabische Schrift sind semitische Konsonantenschriften, d. h. Vokale, und damit auch Bedeutungen müssen aus den grammatikalischen Zusammenhängen hinzugedacht werden. Die hebräischen Worte, die Luther mit «Predige» übersetzt hat, bestehen aus denselben Stammkonsonanten wie der arabische Ausdruck für «Trag vor!» Die Ähnlichkeit dieser Bibelstelle mit dem Wortwechsel zwischen Muhammad und Gabriel ist nach Ansicht biblischer Exegeten kein Zufall. Sie meinen, dass der Autor, der die Begleitgeschichte zu Sure 96 verfasst hatte, die Berufung Muhammads klar nach biblischem Vorbild gestalten wollte.

Koran-Inschrift in der Dekoration des Taj-Mahall in Agra, Indien

In den Augen Muhammads war es ein Vorzug von Juden und Christen, dass sie heilige Texte besassen. Diese konnten in Gottesdiensten vorgetragen und so für das ganze Leben der Religionsgemeinschaft von Bedeutung werden. Den an ihn ergangenen Auftrag «Trag vor im Namen deines Herrn!» verstand er nun dahingehend, dass er den Arabern bringen sollte, was Juden und Christen bereits besassen - von Gott herabgesandte, heilige Texte.

Wie die Juden die Tora und die Christen das Evangelium verehrten, so erhielten die Araber nun durch Muhammad den Koran.

 

Die religiöse Botschaft Muhammads

Aus Sicht der heutigen Koranforschung behandelten die frühen Verkündigungen Muhammads vor allem zwei zentrale Themen: Die Güte des Schöpfers und den Gerichtstag. Der Forscher Montgomery Watt teilt den ersten Teil des Korans in fünf Rubriken ein:

  • Gottes Güte und Macht
  • Die Rückkehr des Menschen zu Gott und die Erwartung des Gerichts
  • Der Mensch soll dankbar und ehrfürchtig sein
  • Der Mensch soll grosszügig sein
  • Muhammads Berufung

Hier hat die christliche Exegese eine auffällige Verbindung zu den christlichen Missionspredigten festgestellt. In der Zeit des frühen Christentums wurde - in missionarischen Situationen - vor Nicht-Christen folgendes verkündet:

  • Wahrer Gott und Schöpfer
  • Erlöser Jesus Christus
  • Errettung der an ihn Glaubenden im Gericht

Veranschaulicht werden diese drei Punkte zum Beispiel in einem Bericht aus dem 6. Jahrhundert, als der christliche Hofdichter Adi ibn Zaid den König der irakischen Stadt Hiora bekehrt haben soll. Er forderte ihn auf:

«Du musst die Verehrung der Götzen sein lassen und nur noch den einen Gott anbeten und dich zum Glauben an Christus Jesus, den Sohn der Maria, bekennen.»

Die Verehrung Marias ist ein wichtiges Merkmal der christlichen Glaubens

Doch im Zentrum der christlichen Missionspredigt steht unverkennbar die Christusbotschaft, und gerade sie fehlt in den ältesten Koransuren. Dabei handelt es sich um eine ganz bewusste Weglassung, die für die Weiterentwicklung der Verkündigung und Wirksamkeit Muhammads entscheidend wurde. Muhammad hält seinen Landsleuten vor Augen, dass sie sich an ihrem Herrn und Schöpfer versündigt haben.

Vor dem drohenden Gerichtszorn werden sie aber nicht durch den Glauben an Christus errettet, sondern indem sie sich durch die koranische Verkündigung auf den rechten Weg leiten lassen. Sie sollen zum Herrn zurückkehren durch Gottesfurcht, Dankbarkeit für die Wohltaten des Schöpfers, Milde gegen ihre Mitmenschen und Ausrichtung des ganzen Lebens auf den Gerichtstag. In der ersten Sure des Korans heisst es:

«Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast, und die nicht dem Zorn Gottes verfallen sind und nicht irregehen.»

 

Klare Absage an die Vielgötterei

Schon als Muhammad Gott als Herrn des Gerichtstags verkündete, fällte er damit indirekt ein Urteil über die Vielgötterei. Später begann er, immer deutlicher gegen den Polytheismus zu predigen. Damit verlor er in Mekka zunehmend Sympathien. Sein Angriff auf die Götter musste den Wallfahrtskult der Stadt, der mit dem Heiligtum der Kaaba verbunden war, treffen und die Handelsgeschäfte der Mekkaner gefährden. Man schlug ihm vor, die drei wichtigsten Stadtgöttinnen als «Töchter Allahs» zu tolerieren. Doch Muhammad blieb nach einer kleinen Schwankung bei seinem unerschütterlichen Nein:

«Sag: Gott, ist einer, ein ewig Reiner. Hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner. Und ihm nicht gleich ist einer.»

So lautet die Übersetzung von Sure 112 durch den deutschen Literaten Friedrich Rückert.

Christen und ihre religiöse Lehre wurden zu Beginn von Muhammad sehr geschätzt

Damit wurde auch Muhammads Einstellung gegenüber der christlichen Lehre - besonders der Verkündigung von Jesus Christus als Sohn Gottes - akut. Angeblich sollen sich Muhammads Gegner auf die von ihm geschätzten Christen berufen haben, um Vielgötterei zu rechtfertigen: Durften diese nicht Jesus als Gottes Sohn verehren? Dieser Einwand schien umso problematischer, da sich Muhammad lange Zeit in voller Übereinstimmung mit den beiden älteren Offenbarungsreligionen - Judentum und Christentum - verstanden hatte. Er hatte auf Jesus auch als früheres Beispiel seines eigenen Auftrags verwiesen. In dieser Situation stellte er nun klar, dass Jesus nicht mehr als nur ein Diener Gottes gewesen sei:

«Er ist in Wahrheit nichts anderes als ein Diener, dem wir besondere Gnade erwiesen, und den wir zu einem Beispiel für die Kinder Israels gemacht haben.» (Sure 43,59)

 

Jesus Christus: Diener Gottes, kein Sohn

Die Bedeutung der Person Jesu im Koran bleibt dennoch zentral: Angelehnt an die Kindheitsgeschichten im Markus- und Lukasevangelium wird auch im Koran Jesus nicht von einem Mann, sondern von Gottes Geist gezeugt. Dieser habe sich ihr als wohlgestalteter Jüngling dargestellt und verkündet, dass Gott ihr einen Jungen schenken werde «zum Zeichen für die Menschen» (Sure 19). Schon in der Wiege habe das Jesuskind gesagt:

«Ich bin der Diener Gottes. Er hat mir die Schrift gegeben und mich zum Propheten gemacht.» (Sure 19.30)

Der Punkt, dass Jesus von einer Jungfrau geboren sei, spricht aber nicht für seine Gottessohnschaft! Aus koranischer Sicht spricht gerade seine wunderbare Erzeugung und Geburt, dass er ein Geschöpf Gottes ist - und nicht mehr.

«Jesus ist, was seine Erschaffung angeht, vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm nur: sei! Da war er.» (Sure 3.59)

Weiter wird Jesus als einer von denen bezeichnet, „die Gott nahe stehen" (Sure 3.45 u.a.). Wo immer er ist, habe ihm Gott «die Gabe des Segens verliehen» (Sure 19.32). Er ist nicht nur Prophet, sondern auch Gesandter, wie etwa Moses und Muhammad, d. h. Begründer der wahren Religion (Sure 4.157). Jesus ist mit einem Buch, dem Evangelium gekommen, «damit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen, und weil wir den Menschen Barmherzigkeit erweisen wollen.» Jesus darf Gehorsam und Glauben beanspruchen. Gott hat ihn «mit dem heiligen Geist gestärkt»; (Sure 2.87) und mit Wunderkräften ausgestattet. Auch die Vorstellung, dass Jesus wiederkommen wird, ist im Koran enthalten. Er ist ein «Erkennungszeichen der Stunde des Gerichts». (Sure 43.61) Sowohl von ihm als auch von seiner Mutter Maria nahm Muhammad eine Himmelfahrt an, setzte also voraus, dass sie nicht gestorben, sondern im Jenseits noch am Leben sind.

Der «Prophet» Jesus soll nach islamischen Glauben im Jenseits lebendig sein

Andere Bezeichnungen Jesu im Koran lauten:

  • Messias (11): al-masih: Nicht im Sinne einer heilsgeschichtliche Sendung, sondern als «der von Sünden Gereinigte»
  • Wort von Gott (kalima min Allah): Der Anschluss an die Logos-Vorstellung aus dem Johannes-Evangelium ist deutlich, aber kein präexistentes göttliches Wesen ist gemeint
  • Geist von Gott (ruh min Allah): Die jungfräuliche Empfängnis gilt als Zeichen von Gottes Allmacht

 

Warum die Ablehnung der Gottessohnschaft?

Die Ablehnung der Gottessohnschaft Jesu ist der zentrale Punkt der Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Christen. Christliche Forscher haben sich den Kopf darüber zerbrochen, ob der Vielgötterkult in Mekka der einzige Grund war, warum Muhammad eine Gottessohnschaft so vehement ablehnte. Der Theologe Tor Andreas sieht eine weitere Ursache: Die Christen auf der arabischen Halbinsel hätten nicht deutlich machen können, dass die Gottessohnschaft Jesu mit seinem Erlösungswerk zusammenhängt. Er schreibt, fast mit Bedauern:

Unter den arabischen Christen spielten Frömmigkeit, Selbstreinigung und lebenslange Reue eine zentrale Rolle, um Vergebung zu erlangen. Die christlichen, evangelischen Gedanken von Gotteskindschaft und Erlösung der Menschen durch den Tod Jesu am Kreuz wurden fast gänzlich gelöscht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Islam sich viel stärker am Prinzip der Eigenverantwortlichkeit orientierte - ähnlich wie die arabischen Christen - und ein erlösender Gottessohn hat dann, so gesehen, keinen Platz mehr.

 

Die Gründung der islamischen Gemeinschaft

In seiner Heimatstadt Mekka stiess Muhammad mit seinem Pochen auf den Ein-Gott-Glauben - der bald das Charakteristikum der islamischen Religion wurde - auf starken Widerstand, der schliesslich in offene Feindschaft umschlug. Gemeinsam mit einigen wenigen Anhängern verliess er 622 Mekka und emigrierte in die Oasenstadt Yathrib - das heutige Medina. Mit diesem Datum beginnt die islamische Zeitrechnung.

Eine syrische Familie auf einer Wanderung am Wochenende

Einer Überlieferung zufolge wurde Muhammad von den Bewohnern der Oasenstadt Medina eingeladen, um zwischen den verschiedenen Stämmen und Parteien der Stadt Streitigkeiten zu schlichten. Er verkündete seine religiöse Lehre, und es gelang ihm damit, seine Autorität durchzusetzen. Die gemeinsame Lehre band die bisherigen Stammessolidaritäten und die erste muslimische Gemeinde entstand. Er stellte eine Gemeindeordnung auf, die alle Bewohner Medinas - auch die nicht-muslimischen - verpflichtete, alle inneren Streitigkeiten zum gemeinsamen Schutz der Muslime nach aussen sofort einzustellen.

 

Auseinandersetzung mit Christen und Juden in Medina

Von den jüdischen Gemeinden erwartete er Unterstützung, vor allem, da er sich in Übereinstimmung mit ihrer religiösen Lehre wähnte. Doch kaum eine Gemeinde erkannte ihn als Propheten an.

Ihre abweisende Haltung brachte Muhammad dazu, einige Anlehnungen an den jüdischen Kultus rückgängig zu machen. Anstelle des Fastens am 10. Muharram - das dem Fasten am jüdischen Versöhnungstag entspricht - wurde der Fastenmonat Ramadan eingeführt. Verneigten sich die Muslime bisher beim rituellen Gebet nach Jerusalem, wurde jetzt die Hinwendung nach Mekka vorgeschrieben. Dies wurde durch eine andere Lesart der Abrahamsgeschichte gerechtfertigt.

Das Freitagsgebet ist der rituelle Höhpunkt der muslimischen Woche; Gebet in der Urfa-Halil-Rahman Moschee in der Türkei

Nach dem Koran sollen Abraham und sein erstgeborener Sohn Ismail, den er mit der ägyptischen Sklavin Hagar hatte, die Grundmauern des mekkanischen Heiligtums, der Kaaba errichtet haben. Von Gott sollen sie den Auftrag erhalten haben. Die Kaaba für die Wallfahrt im Sinne des muslimischen Monotheismus zu reinigen. Mit dieser Kultlegende beanspruchte Muhammad gleichermassen einen Vorrang für den Islam vor Christentum und Judentum, denn Abraham sei «weder Jude noch Christ, sondern ein Gott ergebener Hanif» gewesen (Sure 3.67), d. h. ein Anhänger des Ein-Gott-Glaubens, der mit dem Islam identisch sei. Den Juden und Christen warf Muhammad nun vor, ihre heiligen Schriften wissentlich gefälscht und die Wahrheit verheimlicht zu haben. Die Juden beschuldigte er, sie hielten Esra, die Christen, sie hielten Christus für Gottes Sohn (Sure 9.30).

In der 5. Sure des Korans, soll Jesus vor Gott in einer Gerichtsszene bezeugen, dass er unschuldig an der Verfälschung seiner Botschaft sei:

«Und dann, wenn Gott sagt: Jesus, Sohn der Maria! Hast du etwa zu den Leuten gesagt: Nehmt ausser Gott mich und meine Mutter zu Göttern? Er sagt: Gepriesen seist du! Ich darf nichts sagen, wozu ich kein Recht habe. Wenn ich es gesagt hätte, wüsstest du es ohnehin. Du weisst Bescheid über das, was ich in Gedanken in mir hege. Aber ich weiss über das, was du in dir hegst, nicht Bescheid. Du allein bist es, der über die verborgenen Dinge Bescheid weiss. Ich habe ihnen nur gesagt, was du mir befohlen hast: Dienet Gott, meinem und unserem Herrn!»

Woher Muhammad die Vorstellung einer christlichen Trinität - Gott, Jesus und Maria - nahm, ist nicht eindeutig feststellbar. Der Kirchenvater Epiphanius von Salamis schreibt im 4. Jahrhundert in seinem Buch mit dem Titel «Arzneikasten gegen die Häresien» von Frauen in Arabien, die Maria als Göttin verehrten und ihr Kuchen opfern würden. Ausserdem setzte das Konzil von Ephesus 431 für Maria die Bezeichnung «theotokos, Gottgebärerin» fest. Von einem nicht-christlichen Araber konnte also die Verehrung Marias leicht als Kult einer göttlichen Mutter aufgefasst werden. Muhammads Vorstellung einer göttlichen Entsprechung einer Familie «Mann, Frau und Sohn» musste ihm als Rückfall in die Vielgötterei erschienen sein.

«Götterfamilie» lehnte Muhammad streng ab: Krippe in Nazareth

Ein weiterer Punkt, in welchem Muhammad von der christlichen Lehre abwich, ist die Leugnung des Kreuzigungstodes Jesu. Eigentlich war sie als polemische Wendung gegen die Juden gemeint. Diese sollten nicht länger prahlerisch behaupten können:

«Wir haben Christus (al-masih) Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes getötet. Sie haben ihn in Wirklichkeit nicht getötet auch nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen ein anderer ähnlich, so dass sie ihn verwechselten und töteten.» (Sure 4.157)

Stattdessen soll Gott Jesus, ohne ihn sterben zu lassen, «zu sich in den Himmel erhoben» (Sure 4.158) haben. Für Muhammad war es undenkbar, dass Gott einen so wichtigen und frommen Gesandten einfach hätte sterben lassen. Bis heute glauben praktisch alle Muslime, dass es bei der Kreuzigung Jesu zu einer Verwechslung gekommen sei, z. B. sei statt ihm Simon von Cyrene gekreuzigt worden. Der «echte Prophet» Jesus sei gerettet worden und weiter nach Kaschmir gezogen, wo er wiederum Menschen erschien. Am Lebensende soll er eine Himmelfahrt erlebt haben. Bis heute soll Jesus, wie auch seine Mutter Maria, im Himmel «leben» - bis eben zum Tag des Jüngsten Gerichts.

Der Hl. Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela wurde als «Maurentöter» verehrt

Die christlichen Reaktionen waren einmütig und beinhalteten eigentlich schon alle Argumente, die seit 1400 Jahren der islamischen Theologie gegenüber vorgebracht wird:

  • Der Islam ist keine eigene Religion, sondern nur eine christliche Häresie
  • Muhammad ist ein Lügner, der die Offenbarungen erfunden hat und
  • Christliche Texte auf seine eigene Botschaft hin verfälscht hat

Um sich heute auf theologischer Ebene einander anzunähern, braucht es schon kreative Köpfe und mutige Gedanken. Einen Meilenstein in dieser Arbeit hat der Theologe Hans Küng geleistet, der den Ansatz des kritischen Rückfragens an beide religiösen Traditionen verfolgt und damit erstaunliche Schlüsse gezogen hat. Er fragt beispielsweise an die Seite der Muslime:

Welche theologischen Interpretationsmöglichkeiten bleiben übrig, wenn fortgefahren wird, den Koran buchstabengetreu auszulegen?

Soll ein nirgendwo fest gelegtes Dogma der «Verfälschung» weiterhin Muslime davon abhalten, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen, die für ihr eigenes religiöses Erbe so wichtig ist? Handelt es sich wirklich um einen «kulturellen Rückschritt» und genügt der Koran allein, wenn dort so häufig auf die Bibel Bezug genommen wird?

Und Küng zitiert den muslimischen Theologen Mahmoud Ayyoub, der sich die umstrittene Koranstelle angeschaut hat und folgendes Fazit zieht:

Angesichts der überwältigenden christlichen und jüdischen Quellen, welche die Kreuzigung historisch unzweideutig belegen, waren «muslimische Kommentatoren nicht fähig, die Kreuzigung Jesu überzeugend zu widerlegen. Aus dem Vers wurde ein historisches Statement gemacht. Doch diese Aussage, wie alle anderen über Jesus, gehören nicht zur Geschichte, sondern zur Theologie im weitesten Sinn.» Und das bedeutet aus seiner Sicht: «Die Leugnung des Todes Jesu ist eine Leugnung der Macht von Menschen, das göttliche Wort zu bezwingen und zu zerstören, das ewig siegreich ist.»

Die Kreuzigung Jesu wird als Sühnetod für die Menschen gedeutet

Und auch der christliche Theologe Martin Bauschke hebt hervor: «Christen und Muslime sind sich einig: Wie immer Jesus gestorben sein mag, und was auch immer nach seinem Tod geschah - der Tod hatte und hat nicht das letzte Wort über sein Leben und Wirken im Auftrag Gottes, ist vielmehr ein Durchgang und ein Weg zurück in die Nähe dessen, der ihn gesandt hat.»

Im Hinblick auf Inkarnationsglauben und Trinität stellt Hans Küng jedoch grosse Schwierigkeiten für die christliche Tradition fest: die Kompliziertheit der Lehre habe - so seine Schlussfolgerung - nahezu zum Verschwinden des Christentums in seinen Ursprungsländern geführt.

 

Text: Ann-Katrin Gässlein
Bilder: Karin Hitz, Ann-Katrin Gässlein
Lernprojekt Religionen der Welt